Für Recruiting ist die Personalabteilung zuständig – ist das so?
In meiner Eigenschaft als Personalberater kann ich Einblick in viele Bewerbungsprozesse gewinnen. Teils durch eine Direktbeauftragung der Firma, aber oftmals auch, indem ich – wie ein normaler Bewerber auch – auf eine konkrete Stellenanzeige hin diskret für meinen Bewerber-Kunden bei der Firma anrufe und ein Erstgespräch suche. Meistens wende ich mich zunächst an den Fachbereich – im Branchen-Jargon auch Hiring Manager genannt.
Nicht selten höre ich dann: „Klingt interessant, aber wenden Sie sich an den Personalbereich. Personal ist bei uns fürs Recruiting verantwortlich.“ Der Kunde ist König und so klopfe ich dann immer auch beim Personalbereich an, aber ich frage mich zunehmend, ob diese Aufgabenverteilung noch zeitgemäß ist – oder ob sie es jemals war.
Klar muss jemand den Prozess führen, aber heutzutage ist der Bewerber ein scheues Reh und in manchen Fachgebieten gefühlt eines, das vom Aussterben bedroht ist. Da sollten tunlichst alle Beteiligten an einem Strang ziehen – und zwar top down vom Management, über die „Fachbereichsfürsten“, Teamleader, den Personalbereich bis vor zum Telefonempfang.
Ich habe mir den üblichen Recruitingprozess mal genauer angeschaut und in fünf Grundbereiche zerlegt: Employer Branding, Recruiting, Auswahlverfahren, Onboarding und Mitarbeiterbindung. Und in allen Bereichen kommt dem Fachbereich als spätere Wirkungsstätte des gesuchten Mitarbeiters viel Bedeutung zu. Schauen wir uns das mal etwas genauer an.
Employer Branding hat die Aufgabe, das Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber dazustellen und dem unentschlossenen Bewerber ein ansprechendes, realistisches Bild seiner künftigen Wirkungsstätte zu vermitteln. Hier sind die Fachbereiche schon in der Pflicht, denn durch gute Mund-zu-Mund-Propaganda, Mitarbeiterempfehlungen, echte Mitarbeiter-Testimonials für die Karrierewebseite und nicht zuletzt gute Bewertungen auf Plattformen wie Kununu tragen Sie zum Employer Branding maßgeblich bei. Nicht zuletzt werden zufriedene und unzufriedene Mitarbeiter in der Regel im Fachbereich gemacht.
Im Recruiting liefert der Fachbereich wertvolle Informationen über das Aufgaben- und Stellenprofil. Er ist derjenige, der entscheiden kann, welche Kompetenzen für eine Einstellung zwingend notwendig sind und in welchen Bereichen Erfahrung durch Weiterbildungen und training-on-the-job gefördert werden kann. Und der die Arbeit am besten beschreiben kann. Er ist derjenige, der dem Recruiter mehr über den USP in der eigenen Fachabteilung vermitteln kann und den Recruiter durch offenes Feedback in seinem Blick für passende Bewerber schärft. Durch eine gute Zusammenarbeit lassen sich vielleicht Bewerber-Statements wie „Stellenanzeige sagt nichts aus.“ oder „Die Stellenanzeige ist eine Wundertüte.“ vermeiden.
Im Auswahlverfahren ist der Fachbereich wichtiger Partner wenn es um den cultural Fit eines Bewerbers und um die Prüfung der fachlichen Eignung geht. Recruiting sollte hier durch einheitliche, strukturierte Interviewmoderation und Bewertungsraster Unterstützung leisten, aber die wirklich guten situativen eignungsdiagnostischen Fragen kann nur der Fachbereich mitgestalten. Und nur wenn er auch hinter den Auswahlstrukturen steht und diese nicht als psychologischen Mumpitz abtut, wird der Bewerber das Gefühl bekommen, in einem wertschätzenden, fairen Auswahlverfahren zu sein. „Die Auswahlverfahren sind häufig intransparent und die Zweitgespräche bringen oft keinen neuen Input“, das sind zwei Aussagen, die ich in zahlreichen Interviews mit Kandidaten höre. Mit einer der wichtigsten Aufgaben in diesem Prozess ist aber auch eine rasche Entscheidungsfähigkeit und ein fundiertes Feedback des Fachbereichs, damit Bewerber und Recruiter wissen, woran sie sind.
In vielen Auswahlverfahren erfolgt jetzt die Entscheidung für den Kandidaten und der Fachbereich zieht sich aus dem Prozess. Personal erstellt einen Arbeitsvertrag. Aus meiner Erfahrung ist das falsch; die vertraglichen Konditionen sollten natürlich von HR berechnet werden. Fürs Onboarding sollte aber die Führungskraft verantwortlich sein. Ein Vertragsangebot ist für den Bewerber aus meiner Erfahrung wertschätzender, wenn es direkt vom späteren Vorgesetzten übermittelt und in einem kurzen Telefonat besprochen wird. Hier kann der Fachvorgesetzte auch noch einmal letzte Überzeugung leisten und eventuelle Unsicherheiten des Bewerbers entkräften. Aus meiner Sicht überlegenswert, damit es zukünftig seltener zu solchen Bewerberaussagen kommt: „Die Vertragsverhandlung war mir zu unpersönlich.“
Wenngleich der Mitarbeiter nun an Bord gekommen ist, ist der Recruitingprozess noch nicht abgeschlossen. Jetzt gilt es, den neuen Mitarbeiter gut im Unternehmen zu verankern und seine Resilienz gegen Offerten von Headhuntern und unvermeidbare Frustrationen im Job zu stärken. Hier ist die Führungskraft gefragt. Dann erst durch eine gute Führung und eine hohe Zufriedenheit werden Mitarbeiter zu Markenbotschaftern und leisten gute Arbeit. Womit wir wieder am Ausgangspunkt des Verfahrens – beim Employer Branding angelangt sind.
Im Einstellungskreislauf ist der Fachbereich also an allen Entscheidungen mit beteiligt. Führungskräfte, die ihre eigene Verantwortung hier an den Personalbereich verlagern und nur bei den Bewerbungsgesprächen als graue Eminenz den mächtigen Einsteller mimen, werden in der Zukunft Schwierigkeiten bekommen, ihre Stellen zu besetzen. Diese Chefs werden weniger Erfolg bei Einstellungen haben und im zukünftigen Engpassmarkt wird auch ihr Risiko steigen, die bestehenden Mitarbeiter an den Wettbewerb zu verlieren.
Für Recruiting-Entscheider aus den Fachbereichen, die sich einen schnellen Überblick über die aktuellen Zwänge und Trends am Arbeitsmarkt verschaffen möchten, habe ich ein kleines Video aufgenommen. Viel Spaß beim Ansehen! 🙂